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Strukturen, Funktionen, Eigenschaften

Netzwerkanalyse aus soziologischer Sicht


Interview mit Rainer Diaz-Bone

Wie ist ein Netzwerk strukturiert? Wie sind Akteure in ein Netz eingebunden, und wie knüpfen sie Netzwerke? Der Soziologe und Netzwerkanalytiker Rainer Diaz-Bone erklärt im Interview, wieso Netzwerke für die Soziologie interessant sind, warum man bereits bei einem Paar von einem Netzwerk sprechen kann und wieso schon die Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts Netzwerke für sich zu nutzen verstanden.

fundiert: Was betrachten Soziologen als Netzwerke?

Diaz-Bone: Der Begriff wird unterschiedlich gebraucht. Für Georg Simmel besteht ein Netzwerk aus den kontinuierlichen Interaktionen und dauernden Beziehungen, die aus Interaktion entstehen – er sprach von Wechselwirkungen zwischen Individuen und den daraus entstehenden Dynamiken als Grundlage und Antrieb für eine Gesellschaft. Allgemein gesagt, sind Netzwerke für die Soziologie die Strukturen zwischen Individuen, quasi die informelle Struktur der Gesellschaft und das soziale „Unterfutter“ größerer Formationen wie Organisationen oder Milieus. Man kann sie auch als das soziale Kapital des Einzelnen betrachten, als die Art seiner Einbettung in die Gesellschaft. Für Georg Simmel war es spannend zu fragen, wie durch das Beobachten solcher Beziehungen die gegenseitige Beeinflussung und das Kreuzen sozialer Kreise untersucht werden kann. Es geht um die zentralen Fragen, wie die Gesamtstruktur von Netzwerken differenziert ist, wie Akteure Netze knüpfen, wie sie auf sie zurückwirken und wie ihr Eingebundensein in ein Netzwerk die Akteure prägen und verändern. Schließlich interessiert uns auch, wie und auf welche Weise durch ein Netzwerk Ressourcen fließen. Netzwerke sind eine Art soziale Infrastruktur, die aber zusätzliche Qualitäten, Funktionen oder Eigenschaften aufweist, und deshalb für die Soziologie von Interesse ist.

fundiert: Schaut die Soziologie dabei von außen auf Netzwerke als Ganzes? Oder blickt sie auf das Individuum im Netz und untersucht, wie es eingebunden ist?

Diaz-Bone: Es gibt beide Perspektiven. Ein Ansatz fragt personenbezogen nach dem Netzwerk als Sozialkapital: Welche sozialen Beziehungen hat eine Person? Wer sind ihre Freunde? Mit wie vielen Personen ist sie verwandt und mit wem wie intensiv befreundet? Das wäre zunächst die Analyse „sozialer Beziehungen“. Aber die Netzwerkanalyse geht dann weiter: Wie gestalten sich die Beziehungen der genannten Verwandten und Freunde auch untereinander? Erst hiermit hat man ein ego-zentriertes Netzwerk. Dieses Konzept bezieht die Personen als Auskunftsgeber direkt ein. Andere Ansätze gehen über das ego-zentrierte Netzwerk der Einzelnen hinaus: Welche Netzwerkbeziehungen gibt es zwischen einer bestimmten Menge an Personen oder Organisationen? Hier interessiert uns, die komplette Netzwerkstruktur abzubilden, um auf diese Weise die Strukturen sichtbar zu machen, die der Einzelne nicht mehr wahrnehmen kann, weil sie über sein Umfeld hinausragen. Ab einem gewissen Grad an Komplexität werden Netzwerke für die Teilnehmer nicht mehr überschaubar. Wir interessieren uns dafür, welche Wirkungen man aus der Struktur des Gesamtnetzwerks heraus erklären kann. Das netzwerkanalytische Vorgehen muss aber von der häufig anzutreffenden Verwendung des Netzwerks als Metapher unterschieden werden. Da geht es nicht darum, das Netzwerk formal abzubilden, etwa grafisch mit Hilfe bestimmter Software für Netzwerkanalysen – da wird stattdessen lediglich verbal versucht, eine Qualität zu beschreiben – wie die „Unübersichtlichkeit“, die „Eigenlogik“, ein vermutetes „Potenzial“ oder die „Emergenz“ des Netzwerks.

Das Internet ist technisch gesehen ein Netz, wird aber nicht immer als soziales Netzwerk genutzt
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fundiert: Gibt es für den Einzelnen Strategien für erfolgreiches „Netzwerken“?

Diaz-Bone: Es gibt Soziologen, die versuchen, aus ihren Befunden Empfehlungen abzuleiten, wie man rational Netzwerke knüpft. Ronald Burt, einer der prominentesten Analytiker von Netzwerken, hat in seinem Buch „Structural Holes“ versucht zu argumentieren, dass es sinnvoll sei, für möglichst wenig Redundanz im Netzwerk zu sorgen. Das heißt: Menschen, die ich kenne, sollten sich möglichst nicht untereinander kennen. So entstehen Möglichkeiten des Vermittelns und „Brokerns“ für mich, weil die verschiedenen Fraktionen nur über mich vernetzt sind. Andererseits gibt es Analysen aus der Familien- oder Stadtsoziologie, die zu gegenteiligen Befunden kommen: Um eine Nachbarschaft oder ein Gemeinwesen zu etablieren und zu unterhalten, sind eng verwobene Netzwerke wichtig.

fundiert: Was stärkt ein Netzwerk, was macht es zerbrechlich?
Diaz-Bone: Das hängt immer davon ab, wozu das Netzwerk da ist. Ein soziales Netzwerk gehört niemandem, es wird nicht von einem Akteur kontrolliert. Eine Person kann ein Netzwerk nutzen, dann muss man aber fragen: Wie erfolgt die Mobilisierung von Ressourcen, die im Netz zur Verfügung stehen? Soziologen fragen sich eher: Was macht das Netzwerk mit der Person? Was entsteht aus dem Wechselspiel von historischen Ereignissen, Wert­orientierungen, Handlungen und Netzwerkstrukturen? Es können Konstellationen entstehen, die niemand absehen konnte und die so keiner beabsichtigt hat. Die Struktur des Netzwerks kann ein wichtiges Moment solch einer Konstellation sein. Ein berühmtes Beispiel ist die Untersuchung von Padgett und Ansell, wie die Vormachtstellung der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts entstand. Die Autoren zeigen, wie sie durch Heiratsstrategien starke Beziehungen zur alten politischen Elite und durch Handelsstrategien enge Beziehungen zur neuen wirtschaflichen Elite unterhielt und so ihre Machtposition aus der zentralen Position im Netzwerk enstand.

fundiert: Hat jemand, der einen solchen Knotenpunkt zwischen zwei ansonsten wenig oder gar nicht verbundenen Netzen besetzt, eine besondere Stellung? Große Macht?

Diaz-Bone: Es gibt die Vorstellung, dass bestimmte Positionen, etwa der „Mittelpunkt“ oder eine Schlüsselstellung – wie etwa eine Verbindung von Netzwerkkomponenten –, besondere Kontrolle ermöglichen, um beispielsweise Informationsflüsse zu kon­trollieren. Die Stärke dieser Position kann zwar mit Maßzahlen beschreiben werden, aber so einfach ist eine Erklärung auch nicht, da Macht von vielen Faktoren, nicht nur von der Struktur, die nur eine Voraussetzung für die Ausübung von Macht ist, abhängt. Die Hauptvoraussetzung für das Verständnis eines Netzwerks ist einmal, dass man immer im Blick behalten muss, dass das Netzwerk operational definiert wird: Ich definiere mein Netzwerk dadurch, wie ich das Set der relevanten Aktuere eingrenze und was ich als Definition von Beziehung zugrunde lege. Es gibt also nicht einfach „das Netzwerk“, sondern immer die Art von Netzwerken, die ich in der Analyse systematisch betrachten will. Außerdem kommt es darauf an, wie ein Akteur seine Position nutzt: Eine Person kann über viele Freunde verfügen, die ihr helfen würden. Wenn sie diese Hilfe nicht in Anspruch nimmt, weil sie die Ressourcen nicht erkennt oder weil sie aus ethischen Gründen diese nicht in Anspruch nehmen will oder kann, „nützt“ auch eine zentrale Position wenig.
fundiert: Kann man also ein Netzwerk überhaupt nicht kontrollieren?

Kann man über fünf bis sechs Stationen mit allen anderen Menschen verbunden sein?
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Diaz-Bone: Sie können einzelne Knoten im Netz auf ihr Kontrollpotenzial oder ihr Prestige hin analysieren. Zum Beispiel, indem Sie schauen, wie groß die Anzahl der Beziehungen ist, die die Knoten unterhalten, wie viele andere Knoten nur über diese Knoten kommunizieren können und so weiter. Was aber fehlt, ist die Frage nach der Vormachtstellung einer Person im gesamten Netz und ob diese Person um ihre Stellung weiß. Man muss immer bedenken, dass die miteinander vernetzten Personen nur eine gewisse Übersicht über das Netz haben und oft gar nicht wissen, was ihnen an Handlungsmöglichkeiten oder Ressourcen zur Verfügung stünde. Um zu den Medici zurückzukehren: Deren Netz entstand durch viele Akteure, die alle in ähnlicher Weise darauf aus waren, ihre nächste Umgebung zu beeinflussen, eigennützig zu handeln und sich eine prestigeträchtige Machtposition zu schaffen. Die meisten, die von diesem Netz profitierten, waren sich dessen gesamter Struktur nicht bewusst. Cosimo de’ Medici wurde es auch erst nach einiger Zeit klar – immerhin. Durch strategische Heiraten waren die Medici mit der alten Elite verbunden, die zum Teil nach dem Ciompi-Aufstand verarmt, aber politisch mächtig war. Durch den Handel waren die Medici mit der neuen Elite verbunden, die reich, aber politisch ohne wirklichen Einfluss war. Damit war die Familie der Medici so etwas wie „die Spinne im Netz“, aber es dauerte eben, bis Cosimo de’ Medici das bemerkte.

fundiert: Hat die Soziologie einen wertenden Netzwerkbegriff? Ist „Vernetztsein“ ein positiv besetzter Begriff, weil er sozialen Status oder gar Macht impliziert?

Diaz-Bone: Die Perspektive ist zunächst rein empirisch und daher zunächst eher neutral. Einerseits untersuchen wir, was Netzwerkstrukturen ermöglichen, zum Beispiel als Reservoir für soziale Unterstützung – in materieller, emotionaler oder kognitiver Hinsicht oder als ermöglichende Struktur für Handlung und Koordination. Auf der anderen Seite können Netzwerke auch als Belastungen oder Constraints fungieren. Jeder kennt die sogenannte Freundschaftsfalle: Sie hängen im Netz, und sie werden in Anspruch genommen. Netze gewähren soziale Unterstützung, schränken aber auch ein. Frauen oder Männer, die stark in ihre Familie eingebunden sind, können nicht einfach beschließen, dass sie ihren Lebenspartner verlassen und einen neuen Haushalt gründen – sie sind mehr oder weniger durch ihr Netz auch „gefangen“.

fundiert: Ist es daher günstig, mit nur wenigen, aber weit vernetzten Knoten verbunden zu sein, um selbst wenig in Anspruch genommen zu werden, bei Bedarf aber auf kurzem Wege in ein enges Netz zu kommen?

Diaz-Bone: Es gibt so etwas wie „optimale“ Netzwerkpositionen und Netzwerkstrukturen nur für bestimmte Zwecke und Situationen. Das ist eine Quintessenz der Forschung. Wir können nicht sagen, dass eine bestimmte Netzwerkstruktur auch notwendig für ein großes Spektrum an Situationen aus Sicht der Akteure „funktioniert“. Der Charakter kann zudem kippen. Wer Wert auf Freiheit legt, für den sind dünne Netzwerke von Vorteil, in denen man schnell mit besser vernetzten Knoten einen strategischen Kontakt aufnehmen kann. Sollten Sie hingegen in eine ungewohnte Situation kommen, in der Sie darauf angewiesen sind, schnell viele Ressourcen zu mobilisieren, hilft Ihnen dieses Netzwerk nicht immer weiter. Wenn Ihre wenigen Knoten Ihnen dann nicht helfen wollen oder einer der hochvernetzten Knoten mit Ihnen die Beziehung abbricht, haben Sie ein Problem. Für den Knoten hingegen bleibt das folgenlos – Sie haben für ihn ja wenig strategische Bedeutung. In dichten Netzwerken tritt dagegen der Mechanismus der sozialen Kontrolle häufig hinzu, der dann die Bereitschaft der anderen zu unterstützen erhöht.

fundiert: Inwieweit ist das Internet für Soziologen von Interesse?

Diaz-Bone: Es ist für Soziologen ein spannender Forschungsgegenstand. Es ist aber schwer auszumachen, ob wir es hier wirklich auch mit einem sozialen Netzwerk zu tun haben oder ob es zunächst nicht nur ein technisches Netzwerk ist. Zudem wird es häufig als Massenmedium genutzt. Der Begriff Massenmedium setzt voraus, dass von einer zentralen Stelle über technische Apparate eine Botschaft gesendet wird, ohne dass das Publikum zurücksenden kann. Wenn Sie im Internet eine Website einstellen, die nicht verändert, sondern nur abgerufen werden kann, fungiert es aber wie ein Massenmedium auf der Basis eines technischen Netzwerks. Wenn Sie E-Mail-Kommunikationen untersuchen, liegt aber ein soziales Netzwerk vor, das mit der technischen Infrastruktur möglich wird. Dass das Internet ein technisches Netzwerk ist, das unterschiedlich genutzt werden kann, heißt nicht auch notwendig, dass wir es bei allen Verwendungsweisen mit sozialen Netzwerken zu tun haben.

Internet:

International Network for Social Network Analysis
http://www.insna.org

Journal of Social Structure
http://www.cmu.edu/joss/

fundiert: Hängen Dichte und Geschwindigkeit der Ausbreitung im Netz direkt zusammen?

Diaz-Bone: Es gibt die sogenannten Small-World-Studies, die die Erreichbarkeit zwischen zwei beliebig ausgewählten Netzwerkknoten untersuchen. Da hat sich gezeigt, dass es nicht in erster Linie die Dichte ist, die darüber entscheidet, wie gut Informationen in einem Netz übertragen werden. Wichtiger ist die Strategie, an wen man die Informationen weitergibt. Die Untersuchungsanordnung war einfach: Die Teilnehmer bekamen ein kleines Heft mit der Adresse eines ihnen Unbekannten. Über möglichst wenige persönliche Kontakte sollte das Heft an die Zielperson gelangen. Direktes Verschicken war nicht zulässig, stattdessen musste es zunächst an einen Bekannten gelangen, von dem der Teilnehmer vermutete, dass er näher an der unbekannten Zielperson sei. Die erfolgreichste Strategie war, das Heft an Personen mit einem hohen sozialen Status zu senden. Sie hatten oftmals die besten Ressourcen, um das Heft in das nahe soziale Umfeld der Zielperson zu schicken. Es ist also nicht nur eine Frage der Netzstruktur, sondern auch eine Frage der Eigenschaften der Knoten.

Die Soziologie versucht, die Netzwerkstruktur und ihre Wechselwirkung mit den Handlungen der Akteure zu beschreiben
Foto: sdart, Fotolia

fundiert: Und diese Studien haben ergeben, dass jeder Mensch mit jedem anderen über fünf oder sechs Stationen verbunden ist?

Diaz-Bone: In seiner zum Klassiker avancierten Studie fand Stanley Milgram heraus, dass es im Mittel, beziehungsweise Median, sechs Stationen sind. Diese Studien entdeckt man gerade wieder neu – daher lautete ein aktueller Buchtitel von Duncan Watts „Six Degrees“. Das liegt daran, dass man Grundüberlegungen der Small-World-Theorie für Simulationen und für die Analyse mit zufallsgenerierten Netzwerken verwenden kann. Es ist interessant, zufallsgenerierte Netzwerke mit realen Netzwerken zu vergleichen, um zu zeigen, dass es einfache Prinzipien und Systematiken gibt, die in der Bildung von empirischen sozialen Netzwerken am Werk sind. Hier beschäftigen sich jetzt auch Naturwissenschaftler mit soziologischen Fragen. Allerdings drängt sich eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen auf – etwa: Kann man mit solchem mathematischem Kalkül soziologische Probleme analysieren? Andererseits muss man auch einräumen, dass die Analyse von Netzwerken nicht einem Fach allein „gehört“. Sie ist eben ein transdisziplinäres Unternehmen, um formale Strukturen und deren Dynamiken zu analysieren, das fachlich gesehen eher zwischen den Stühlen sitzt. Und wir verwenden in großem Maße auch ganz eigenständige statistische Verfahren. Die klassische Statistik erhebt attributionale Daten, die etwas über das Individuum, aber nichts über seine Beziehungen zu anderen und die Qualität der Beziehung aussagen. Um das aber zu können, braucht man eigene Erhebungsstrategien und für die Auswertung von relationalen Daten dann auch eigene methodische Verfahren, eigene Software (wie Pajek oder UCInet). Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse ist quasi eine methodologische Parallelwelt, die seit der Entwicklung der modernen Netzwerkanalyse in den 1970er Jahren durch die Gruppe um Harrison White aus der Harvard-Gruppe als ein ganz neuer Zugang zu den sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen, in denen bislang nur mit Individualdaten geforscht wurde, entstanden ist.

fundiert: Gibt es kulturabhängige Netzwerke? Vernetzen verschiedene Kulturen anders?

Diaz-Bone: Da die Netzwerkanalyse eine international anerkannte Methode ist, sind auch Netzwerkanalytiker mittlerweile gut vernetzt – und es gibt eigene Zeitschriften wie „Social Networks“ oder Online-Zeitschriften wie das „Journal of Social Structure“. Daher wird vergleichende Forschung über die Frage einfacher, ob es Strukturen von Netzwerken gibt, die in verschiedenen Nationen oder Kulturen gleich sind. Eine Theorie besagt, dass wenige Prinzipien reichen, um soziale Netzwerke zu beschreiben. Ein Beispiel: Das Inzestverbot und das Verbot, die Kreuzkusine zu heiraten, führen zu regelmäßigen Mustern in Verwandschaftsbeziehungen – sie wären dann so etwas wie „allgemeine“ Prinzipien, die die Existenz universeller Verwandtschaftsstrukturen erklären können sollen. Viele Netzwerke werden aber erst erklärlich durch die Einbeziehung der Handlungsnormen von Akteuren und durch ihre Geschichte. Netzwerke ähneln sich, wenn die Prinzipien, die zu ihrer Erschaffung führten, dieselben sind. Und es gibt einmalige historische und kulturabhängige Prinzipien, die so einflussreich sind, dass sie zu ganz individuellen Formen von Vernetzungsstrategien und Netzwerken geführt haben.

fundiert: Ist das Netzwerk ein altes Phänomen? War die Familie im Neandertal schon ein Netzwerk?

Diaz-Bone: Mit Netzwerken hatte es die Menschheit seit jeher zu tun. Allerdings ist die Aufmerksamkeit für Netzwerke gestiegen. Das hat einmal wissenschafts­immanente Gründe. Die Netzwerktheorie entwickelt sich, es gibt neue Methoden und Software, die eine Erforschung auch großer und komplexer Netzwerke möglich machen. Es gibt andererseits gesellschaftliche Phänomene wie die mit der Modernisierung entstehenden Wahlmöglichkeiten für Lebens- und Familienformen, die das Netzwerken fördern.

fundiert: Ist „Netzwerk“ ein Modebegriff, der heute inflationär gebraucht wird – Stichwort: Globalisierung –, oder hat die Vernetzung tatsächlich zugenommen?

Diaz-Bone: Globalisierung ist ein Sachverhalt, der einige Jahrhunderte alt ist. Mit den Medici oder den Fuggern lässt sich das leicht aufzeigen. Auf der anderen Seite sind Kommunikationsmedien, vereinfachte Möglichkeiten zu reisen und die Wahlfreiheit beim Herstellen und Abbrechen von Beziehungen natürlich Sachverhalte, die das Vernetzen fördern – und diese Aufzählung ist längst nicht vollständig. Schließlich ist unser Blick für Netzwerke geschärft worden, auch durch das allgegenwärtige Sprechen darüber.

fundiert: Ab welcher Größe interessieren sich Soziologen für Netzwerke? Ist ein Paar schon ein Netzwerk?

Diaz-Bone: Im Prinzip ist sogar eine Person, die nicht vernetzt ist, in der Netzwerkanalyse schon ein Netzwerk. Ein Paar bezeichnen wir als Dyade. Das völlige Fehlen von Beziehungen ist soziologisch auch denkbar. Interessant werden Netzwerke soziologisch gesehen aber erst, wenn sie viele Akteure haben und eine unterschiedliche Intensität der Vernetzung. Wenn niemand mit niemandem vernetzt ist, ist das nicht interessant, und wenn jeder mit jedem vernetzt ist, auch nicht. Differenzierung interessiert uns – und Variation. Dann fragen wir einerseits, wie das zustande gekommen ist und andererseits, wie man anhand der Variation vergleichend analysieren kann, auf welche Weise unterschiedliche Netzwerke ermöglicht und eingeschränkt werden.

fundiert: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Jan Bosschaart und Bernd Wannenmacher.


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