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Schule des Sehens

Die Kunstgeschichte und das Internet


Von Maximilian Benker

Könnten wir ohne „das Netz der Netze“, das Internet, heute wesentliche Teile unseres Lebens noch genauso effektiv gestalten wie früher? Vermutlich nicht. Auch Universitäten können in Wissenschaft und Lehre kaum noch auf das Internet als ein Instrument für die Recherche verzichten. Wie verhält es sich jedoch mit neuen Lernformen wie internetbasiertem E-Learning? Dieses wird derzeit in großem Maßstab an den Universitäten eingeführt – und modernisiert die Lehre ganz wesentlich. Am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin haben sich elektronische Lernprogramme als sehr erfolgreich erwiesen.

Die Bildungspolitik hat die Richtung längst vorgegeben: Im Förderprogramm „Neue Medien in der Bildung“ des Bundesministerium für Bildung und Forschung wurden 2003 Ideen zu den neuen Medien entwickelt: „Der Umbruch der modernen Industriegesellschaften hin zu Informations- und Kommunikationsgesellschaften wird tiefgreifende Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen hervorbringen. Der Bildungsbereich ist besonders betroffen. Die Neuen Medien werden neue Möglichkeiten für die Aufbereitung des Wissens, seiner Präsentation sowie der Gestaltung der Vermittlungsprozesse in der Lehre bieten, die digitale Aufbereitung von Wissen wird an Bedeutung gewinnen, neue Formen von Wissensvermittlungsprozessen werden sich herausbilden.“

Das Universitätsfach Kunstgeschichte hat die Herausforderung angenommen und in den letzten Jahren intensiv an der vernetzten, virtuellen Lehre gearbeitet. Als bildwissenschaftliche Leitdisziplin hat sie das Virtuelle und seine Vermittlung schon lange zum Forschungsgegenstand gemacht: Das Bild ist ein zentrales Informationsmedium des Internets, und Bildwissenschaften wie die Kunstgeschichte sind wie geschaffen dafür, neue Lernformen über Bilder zu entwickeln – „Sehformen“, die das Internet mit seinen Möglichkeiten der Visualisierung und Virtualisierung bietet. Angesichts des Potenzials der Kunstgeschichte förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Förderprogramms „Neue Medien in der Bildung“ zwei umfangreiche Projekte. Das erste Projekt „Prometheus – Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung und Lehre“ hatte das Ziel, digitale Abbildungen, also primäres Unterrichtsmaterial, grundlegend zu verbessern. Dafür sollte ein Abfrage-Tool für bestehende Bilddatenbanken entwickelt werden. Anders als bei diesem Vorhaben, das auf die Verbesserung der Infrastruktur zielte, konzen­trierte sich das zweite Projekt „Schule des Sehens – Neue Medien der Kunstgeschichte“ darauf, kunsthistorische Inhalte in einer vernetzten Umgebung zu vermitteln. An diesem Projekt war die Freie Universität maßgeblich beteiligt.

Die „Schule des Sehens“ ist das bislang umfangreichste E-Learning-Projekt des Fachs Kunstgeschichte. Die fünf Projektpartner entwickelten zunächst materialreiche Lernprogramme, die auf der zentralen Plattform der „Schule des Sehens“ zusammengeführt wurden und seither nicht nur den am Projekt Beteiligten, sondern dem gesamten Fach Kunstgeschichte im Netz zur Verfügung stehen.

Startseite des Internet-Projekts „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“
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Hier geht’s lang: Inhaltsverzeichnis der „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“
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Zur Verwirklichung des ehrgeizigen Projekts gab es zahlreiche Hürden zu überwinden. Theoretisches Wissen, wie und warum die Materialien im Netz aufzubereiten seien, war vorhanden. Es fehlte weder an medienpraktischen noch an medientheoretischen, päda­gogischen oder soziologischen Überlegungen, wie netzbasierter Unterricht in das universitäre Lehrangebot einzubeziehen sei und wie es sich auf die Soziologie des Lernens auswirke. Praktische Erfahrungen waren jedoch rar, große vernetzte Projekte im Fach Kunstgeschichte überhaupt nicht vorhanden. Genau diese praktischen Erfahrungen zu sammeln, Chancen des E-Learnings auszuloten und gleichzeitig hochwertige Lehrmaterialien anzubieten, war das Ziel des Projekts. Es wurde gemeinsam getragen von den Kunsthistorischen Instituten der Freien Universität Berlin, der Ludwig-Maximiliams-Universität München, der Philipps-Universität Marburg, der Universität Hamburg und der Technischen Universiät Dresden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde ein breites, internet­basiertes Lehrangebot entwickelt: vom reinen Selbststudium bis zu Online-Seminaren, die auf der Zusammenarbeit im Internet beruhen und von wissenschaftlichen Tutoren begleitetet werden.

Alle Teilprojekte hatten eine gemeinsame Vorgabe: Sie sollten netzbasierte und multimediale Studieneinheiten im Umfang von 30 Semesterwochenstunden entwickeln. Studierende können netzbasierte Lehrveranstaltungen zwar selbstständig und ortsunabhängig erarbeiten – konzipiert wurden die Module aber vorrangig für den curricularen Einsatz im Universitätsbetrieb. Die Lehreinheiten und ihre Aufgaben entsprechen Universitätsseminaren und bestehen aus bis zu 15 aufeinander aufbauenden Einheiten. Ein Dozent nimmt die Prüfung ab. Erprobt wurden Möglichkeiten der Visualisierung, transparente Lernprozesse sowie entdeckendes und gemeinschaftliches Lernen. Die Hompage fasst das Projekt „Schule des Sehens“ so zusammen: „Die Schule des Sehens bietet Interessierten kunstgeschichtliche Lehrveranstaltungen und Studieneinheiten unterschiedlichen Umfangs und Schwierigkeitsgrads. Sie soll ein Ort des gemeinschaftlichen Lernens werden, der geschichtliche Erfahrung vermittelt und zu kritischem Umgang mit Bildern befähigt.“

Der Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie der Ludwig-Maximillians-Universität München begleitete die am Projekt beteiligten Kunsthistorischen Institute bei der Einführung der neuen Lehreinheiten: eine neue Kombination von Präsenzlehre und betreutem Selbst- und Fernstudium. Heute, zwei Jahre nach Abschluss des Projekts, werden die elektronischen Angebote der gemeinsamen Internet-Plattform von den fünf beteiligten Universitäten unterschiedlich eingesetzt. Als erfolgreichstes Modell erwies sich dabei die Kombination aus Internet- und Präsenzlehre (Blended-learning) und die Begleitung des Selbststudiums durch einen Tutor – das zeigen die Lernerfolge und die Zufriedenheit der Studierenden mit der neuen Unterrichtsform. Die Freie Universität und die Kooperationspartner bieten unterschiedliche Themen in der neuen Lehrform an: München bietet die Themen „Architektur der Renaissance und des Barock“ sowie „Deutsche und Französische Malerei im 19. Jahrhundert“. „Spanische Kunst“ und „Mittelalterliche Kunsttechniken“ werden in den Dresdener Lehreinheiten vermittelt. Hamburg bietet eine „Einführung in die politische Ikonographie“ und „Reliquienwesen im Mittelalter“ an. Marburg vermittelt eine „Einführung in die antike Mythologie“ und eine „Einführung in die Filmanalyse“.

Am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität entstand das umfangreichste Programm innerhalb des Projekts: die „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“. 30 Kapitel vermitteln unter dem Blickwinkel der Funktion von Kunstwerken einen breiten Überblick über Epochen, Stile und Gattungen. Das Programm gründet auf dem „Funkkolleg Kunst“, das Professor Werner Busch 1984, damals noch an der Universität Bochum, konzipiert hatte. Schon als Rundfunk-Lerneinheit hatte das Kolleg mit mehr als 40.000 Teilnehmern und 15.000 Absolventen einen überwältigenden Erfolg. 20 Jahre nach dem damals grundlegend neuen Ansatz, die gesamte Kunst unter dem Begriff der Funktion zu betrachten, ist dies heute ein selbstverständlicher Besandteil der kunsthistorischen Forschung und Lehre. Die Frage eignet sich besonders, um einen umfangreichen Überblick über die Gegenstände des Fachs zu vermitteln. „Zum einen“, so Werner Busch in der Einleitung zum Internet-Lernprogramm, „weil es möglich ist, mit ihrer Hilfe eine konsequente, nicht überbordende Geschichte der Kunst zu entwickeln; zum anderen, weil sie materielles und historisches Wissen als eine entscheidende Basis der Kunstgeschichte zu befestigen weiß.“ Die Autoren des ehemaligen Funkkollegs, allesamt herausragende Vertreter der Kunstgeschichte an Universitäten und Forschungseinrichtungen, überarbeiteten und aktualisierten gemeinsam mit jungen Nachwuchswissenschaftlern die Inhalte des ehemaligen Funkkollegs.

Die am Projekt beteiligten wissenschaftlichen Mitarbeiter des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität strukturierten die Inhalte anschließend für eine Nutzung im Internet neu und bereiteten sie didaktisch auf. Sie ergänzten reichhaltiges neues Bildmaterial und vernetzten es mit im Internet angebotenem Material. Die einzelnen Themen lösten sie in Studienmodule auf, die sich der Nutzer online erschließen kann. Text, Bild und Vortrag werden dabei nicht wie in einer Präsenzvorlesung oder in einem Buch lediglich gegenübergestellt: Während der Nutzer gesprochene Texte hört, kann er am Bildschirm den Gegenstand oder das Bild durch mehrfache Vergrößerungen hervorheben oder Detailansichten mit der Maus selbst wählen. Der Nutzer kann die Audiodateien bei Bedarf auch beliebig oft unterbrechen oder wiederholen. Hinter der Markierung einzelner Begriffe stehen Erläuterungen bereit, die sich per Mausklick in weiteren Bildschirmfenstern öffnen. Zeitleisten, Drag-and-Drop-Funktionen und Multiple-Choice-Verfahren bieten die Möglichkeit, den Stoff zu vertiefen und das Gelernte zu überprüfen. Das gesamte Material wurde in dieser Weise aufgefächert und in Strukturen überführt, die dem elektronischen Medium entsprechen. Wo immer es möglich war, hat die bebilderte Wissensaneignung Vorrang vor dem Text. Das internetbasierte Studium bietet so eine Vielzahl an Möglichkeiten, die visuellen Fähigkeiten der Studierenden im Sinne einer „Schule des Sehens“ zu fördern. Das Programm gehört seit 2005 zum Pflichtprogramm des Bachelor-Studiengangs Kunstgeschichte an der Freien Universität.

Zusätzlich zur „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“ entstand am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität unter der Leitung von Professor Eberhard König das Lernprogramm zur „Burgundischen Buchkunst von den Valois bis zu den Habsburgern“. Dieses Programm hat das Material ebenso medien­gerecht aufgearbeitet: Es ist im Aufbau vergleichbar und dient gleichfalls als Selbstlernprogramm. Es kann jedoch auch als Online-Seminar „besucht“ werden. Derzeit setzt Eberhard König das Programm begleitend zur Vorlesung „Französische Buchmalerei“ ein.

Zum einen bietet das E-Learning-Programm eine Einführung in eine für die Buchproduktion des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit außerordentlich bedeutsamen Kultur. Zum anderen hat es zum Ziel, das Handwerkszeug zu vermitteln, um Handschriften erfassen zu können. Zudem schult es den analytischen Umgang mit illuminierten Büchern – unabhängig von Zeit und Ort ihrer Entstehung. Die Studierenden sollen mit den historischen Sammlern von Büchern und deren Bibliotheken vertraut werden und die technischen Abläufe bei der Entstehung von Büchern begreifen. Anhand von bedeutenden Beispielen und reicher Bebilderung lernen die Studierenden die wichtigsten Texttypen aus der Liturgie und Paraliturgie sowie aus den weltlichen Feldern der Geschichtsschreibung, Literatur und Didaktik. Zudem erhalten sie einen Überblick über die führenden Buchmaler ihrer Zeit. Den Studierenden wird veranschaulicht, welche Funktion und welcher Stellenwert Büchern im Spätmittelalter zukam, welcher Anspruch und welche Motivation die bibliophilen Auftraggeber antrieben, wie Bücher produziert wurden und welche künstlerische Vielfalt sich im Medium Buch zeigte. Zugleich wird eine allgemeine Einführung in Beschreibung und Analyse von Handschriften gegeben.

Hervorzuheben ist ein zentraler Aspekt der beiden am Kunsthistorischen Institut konzipierten Online-Angebote: Die im Projekt verwendeten Präsentationsformen dienen ausschließlich didaktischen Zielen und sind kein auf Technik fixierter Selbstzweck. Genau hierin unterscheidet sich das Projekt „Schule des Sehens“ von anderen Versuchen im Bereich E-Learning. Es wurde von vornherein darauf geachtet, die Studierenden nicht medial zu überfrachten. Zudem wurden zu hohe Anforderungen vermieden: sowohl an die technische Ausstattung als auch an die Medienkompetenz der Nutzer – vor allem, da Medienkompetenz selbst mit den Programmen vermittelt werden soll. Die Struktur des Programms greift die Sehgewohnheiten und das Nutzerverhalten auf. Das ermöglicht gerade den Studierenden, die keine Erfahrung mit umfangreichen Wissensangeboten im Internet haben, einen problemlosen Umgang. Dazu gehört, dass das Wissen aufeinander aufbauend oder „seitenweise“ erfolgt. Dennoch gehört es zur Stärke der elektronischen Wissensvermittlung, dass die lineare Abfolge durch nichtlineare Strukturen aufgebrochen wird, um eine selbstbestimmte Aneignung zu ermöglichen.

Als die digitalen Studieninhalte am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität fest in den Bachelor-Studiengang installiert werden sollten, betrachteten das einige Dozenten zunächst mit Skepsis. Ein Grund war sicher, dass vorherige Prototypen von E-Learning medientheoretisch überladen und in der Anwendung allzu kompliziert gewesen waren. Sie waren technisch und inhaltlich einfach noch nicht ausgereift und lösten damit Unbehagen gegenüber den Neuen Medien als solche aus. Nach einer ausführlichen Pilotphase wurde im vergangenen Jahr aber entschieden, die „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“ als festen Bestandteil in den Bachelor-Lehrplan aufzunehmen. Mit großem Erfolg: Das Selbstlernprogramm hat sich schnell etabliert – das dokumentiert auch die positive Evaluation des Studienverlaufs nach dem ersten Durchgang. Gerade die Kombination von Selbststudium und Präsenzunterricht bewerteten die Studierenden als sehr sinnvoll.

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Teil des Bachelor-Studiums ist es nun, innerhalb von zwei Semestern das Modul „Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“ zu erarbeiten. Die Lerneinheit vermittelt Grundkenntnisse des Fachs und leitet zum selbstständigen Lernen an – doch zugleich finden die Studierenden Halt in einer klar vorgegebenen Struktur und festgelegten Aufgabe. Die Studierenden haben darüber hinaus die Möglichkeit, in einem Tutorium ihr Wissen zu vertiefen, und sie können auch auf die Lerneinheiten der fünf Partneruniversitäten zugreifen. Für die Dozenten entsteht mit dem neuen Modul ein positiver Nebeneffekt: Sie werden von der Aufgabe entlastet, jedem neuen Jahrgang aufs Neue dasselbe Grundwissen im Präsenzunterricht in großen Gruppen zu vermitteln. Damit werden Kapazitäten frei, um in kleinen Seminaren das vorhandene Wissen zu vertiefen. Derzeit leiten Dozentinnen und Dozenten das begleitende Tutorium zum Selbstlernprogramm. Künftig übernehmen ausgewählte Studierende höheren Semesters die Leitung. Sie werden speziell auf diese Aufgabe vorbereitet. Damit können sie nicht nur ihr eigenes Wissen ergänzen, sondern auch Erfahrung in der Lehre sammeln.

Die E-Learning-Einheiten haben sich am Kunsthistorischen Institut so gut etabliert, dass sowohl am Institut als auch im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Wunsch nach weiteren Online-Angeboten aufkam. Die technische Produktion von elektronischen Lerneinheiten war 2003 noch sehr aufwendig. Inzwischen aber bietet das Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität das Programm „Lektora“ an, das eine relativ unkomplizierte Produktion ermöglicht. Künftig wird sicher die Zahl der E-Learning-Angebote am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften zunehmen. Auch wird sich wohl die Zusammenarbeit verschiedener Universitäten und Institutionen im Internet verstärken. Bei allem medialen Fortschritt wird sich eines aber auch in Zukunft nicht ändern: Professoren und wissenschaftliches Personal prüfen weiterhin den Lernerfolg der Studierenden – und das ganz klassisch: mit zwei Klausuren.


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